• Pflege 4.0 - Im Interview: Mit dem Forschungsprojekt SensOdor Pflegehelfer der Zukunft entwickeln

    Pflege 4.0

    Im Interview: Mit dem Forschungsprojekt SensOdor Pflegehelfer der Zukunft entwickeln

Kontrollverlust über die eigene Blase – eine große Belastung für Betroffene und die Personen im Umfeld. Der Geruchssensor SensOdor soll zukünftig bei der Versorgung inkontinenter Menschen helfen. Er wird ans Bett angebracht und gibt Alarm, sobald Gerüche auftreten. Das Projekt ist ein Entwicklungsvorhaben der Firma Binder Elektronik und wurde vom Forschungsministerium unterstützt. Die Technik wurde bereits getestet, ist wegen Nachbesserungsbedarf aber noch nicht auf dem Markt. Im Interview schildert Christian Rückert, Firmenchef von Binder Elektronik, die ersten Resultate des Projekts und erklärt die Relevanz digitaler Lösungen für die Pflege.

Warum braucht es einen solchen Sensor und in welchen Bereichen soll er zum Einsatz kommen?
CHRISTIAN RÜCKERT: Inkontinenz ist noch immer ein Tabuthema, dabei ist es weit verbreitet und meist eine große Belastung für die Betroffenen und die Personen im Umfeld. Die Idee hinter „SensOdor“ war von zwei Seiten aus getriggert. Zum einen durch die Verbesserung der Lebensqualität von Betroffenen, zum anderen durch eine mögliche Optimierung von Pflegeabläufen sowohl in der professionellen als auch der häuslichen Pflege. Als Einsatzbereiche eines Geruchssensors wurden alle Bereiche identifiziert, die mit dem Thema Inkontinenz in Berührung kommen. Das sind natürlich Pflege im stationären, ambulanten und häuslichen Umfeld, aber auch mobile Personen, die durch Krankheiten oder Operationen von Inkontinenz betroffen sind.
Wann wurde mit der Entwicklung begonnen?
CHRISTIAN RÜCKERT: Das Forschungsverbundvorhaben "SensOdor" startete im Februar 2013. Das Projekt wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert und war auf drei Jahre Laufzeit begrenzt.
Der Sensor wurde bereits in Pflegeheimen getestet. Was waren die Erkenntnisse aus diesen Tests – sprich: Wo gab es Schwierigkeiten und wann hat der Sensor Betroffenen, Pflegepersonal und Angehörigen geholfen?
Zitat Christian Rückert
CHRISTIAN RÜCKERT: Im Rahmen des Projektes wurden zwei Feldtest-Phasen von jeweils mehreren Wochen durchgeführt. Die größte Herausforderung im Projekt war die Erkennung von Gerüchen bzw. Gasen, die zweifelsfrei einen Rückschluss auf Inkontinenz zulassen. An dieser Stelle haben die Projektpartner von technischer Seite Neuland betreten. Leider musste das Konsortium auch abschließend feststellen, dass eine zuverlässige Erkennung von Inkontinenz durch Geruch mit den heutigen Technologien noch nicht möglich ist.

Trotzdem konnten wir zahlreiche Erkenntnisse sammeln. So könnten sich die Heime z. B. vorstellen mit einem weiterentwickelten Gerät ein "Geruchsmanagement" zu betreiben. Dazu würde man die allgemeine Geruchsbelastung in verschiedenen Bereichen messen und in Echtzeit visualisieren. Ausgehend von diesen Informationen würde das Heim dann geeignete Maßnahmen zur Verbesserung der Situation einleiten. Damit könnte das Wohlempfinden von Besuchern, Bewohnern und Pflegekräften gesteigert werden.
Eine weitere positive Erkenntnis war, dass das Gerät von keiner Partei als störend empfunden wurde. Es gab von Seiten der Angehörigen keine ethischen Bedenken gegen den Einsatz. Da Inkontinenz ein heikles Thema ist, wurde dieser Aspekt im Projekt genau betrachtet.
Wann ist damit zu rechnen, dass der Sensor auf den Markt bzw. wirklich zum Einsatz kommt?
CHRISTIAN RÜCKERT: Zum aktuellen Zeitpunkt ist es nicht möglich, eine zuverlässige Erkennung von Inkontinenz zu gewährleisten. Das liegt daran, dass die entstehenden Gerüche höchst unterschiedlich sein können und es viele Querempfindlichkeiten gibt. Anders ausgedrückt, aktuelle Gassensoren sprechen unter Umständen auf die Inhaltsstoffe von Reinigungsmitteln oder Parfum ähnlich an wie auf Inkontinenzgerüche. Das macht eine Unterscheidung schwer und führt zu relativ schwachen Erkennungsquoten. Wir konnten im Projekt am Ende zu etwa 70% technisch eine Inkontinenz erkennen. Das klingt nicht schlecht, in der Praxis müssten aber wohl mindestens 95% richtig erkannt werden, damit sich der Einsatz lohnt.
Das Konsortium geht davon aus, dass es noch circa drei bis fünf Jahre dauern wird, bis man technologisch in der Lage ist, dieses Ziel zu erreichen.
Die Firma Binder hat bereits an mehreren Projekten im AAL-Bereich mitgewirkt. Warum sind solche Techniken immer gefragter und wichtiger und woran konkret haben sie mitgearbeitet?
Zitat Christian Rückert
CHRISTIAN RÜCKERT: Der demografische Wandel betrifft Deutschland wie kaum ein anderes Land in der Welt. Für unsere alternde Gesellschaft wird technische Unterstützung wichtig werden, um eine ausreichende Versorgung sicherzustellen. Schon heute herrscht im Pflegebereich vielerorts Personalmangel. Ich bin davon überzeugt, dass man mit technischen Lösungen kaum Personal ersetzen kann. Aber man kann helfen vorhandene Ressourcen besser zu nutzen und die Qualität der Pflege ohne erheblichen Mehraufwand seitens der Pflegekraft zu verbessern. Das Thema Ambient Assisted Living geht aber noch weit über den Pflegebereich hinaus. Ein weiterer Trend ist die Unterstützung von älteren Menschen in einem aktiven und selbstbestimmten Leben durch technische Lösungen. Denn die Menschen werden nicht nur immer älter, sondern bleiben auch länger selbstständig und aktiv. Hier kann Technik helfen, da entstehen schon gute Lösungen.
Binder Elektronik hat neben dem Projekt SensOdor auch in den ebenfalls vom BMBF geförderten Projekten Proassist4life und Moveas mitgearbeitet. In Proassist4life sollte über Bewegungsprofile auf den Gesundheitszustand von alleinlebenden älteren Personen geschlossen werden. In Moveas wurde ein Unterstützungssystem für aktive mobile Personen entwickelt. Binder Elektronik produzierte dafür eine angepasste Smartwatch, die Zugriff auf einen Server mit Funktionen wie Erinnerungen, Notruf oder Fußgängernavigation gewährte.
Mit welchen technischen Neuerungen können wir Ihrer Meinung nach im AAL-Bereich innerhalb der nächsten Jahre rechnen?
Zitat Christian Rückert
CHRISTIAN RÜCKERT: Ich denke, dass der Pflegebereich generell noch Nachholbedarf im Umfeld von Digitalisierung hat. Für viele smarte Lösungen ist ein digitalisiertes Umfeld aber Grundvoraussetzung. So werden sich aus meiner Sicht als erstes relativ "einfache" Dinge wie Breitbandanbindung, flächendeckendes WLAN, Smart Devices und intelligente Softwarelösungen verbreiten. Darüber hinaus vermute ich, dass zuerst kleinere Lösungen kommen werden, die beispielsweise das Trinkverhalten tracken können. Diese sind meist nicht so kostenintensiv und werden auch schneller akzeptiert. Es gibt aber auch wirklich spannende "große" Systeme wie eine intelligente Matratze, die Dekubitus vorbeugen soll. Ein ganz heißes Thema ist die Ortung von dementen Personen, die weglaufen. Daran wird an verschiedenen Stellen gearbeitet. Ich denke, hier wird es bald schon gute Lösungen geben.
Im privaten Bereich werden sich vor allem im Umfeld von Smart Home viele Dinge entwickeln. Komfort- und Zusatzfunktionen im Haus, die immer wichtiger werden, wenn die Bewohner älter werden.
Christian Rückert, Firmenchef von Binder Elektronik

Christian Rückert, Firmenchef von Binder Elektronik. Foto: Christian Rückert

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