Ambient-Assisted-Living-Lösungen (AAL) werden in der Pflege immer bedeutender. Immer mehr Firmen und Forschungsprojekte fokussieren sich daher auf diesen Bereich. So auch das Unternehmen CIBEK mit Firmensitz in Limburgerhof bei Ludwigshafen. Es rüstet Gebäude mit intelligenter Technik aus. Im Interview erklärt Geschäftsführer Bernd Klein, warum AAL-Lösungen für die Pflege in der Zukunft nicht wegzudenken sind.
Wo ist eigentlich der Unterschied zwischen Smart Home und Ambient Assisted Living, also AAL?
KLEIN: Die Technik, also die Sensorik und teilweise auch die Rechner und die Hardware, kann man für beides nutzen. Wenn ein Sensor erkennt, dass jemand im Raum ist, kann ich das verwenden, um zu sehen, ob die Person aufgestanden ist und ob es ihr gut geht, oder um das Licht einzuschalten oder die Rollläden hochzufahren. Der wesentliche Unterschied ist, dass die Smart Home-Komponenten eher auf den Bereich Komfort ausgerichtet sind. Bleiben wir bei den Bewegungsmeldern: Wenn die versehentlich mal das Licht ein- oder ausschalten, dann ist das nicht so schlimm. Bei AAL, wo Sicherheitssysteme hinter stecken, kann das gravierende Folgen haben, zum Beispiel wenn nicht erkannt wird, ob eine Person in der Wohnung ist. Bei diesen Komponenten muss man genau schauen, welche eingesetzt werden.
Wo steht Deutschland aktuell technisch beim Thema AAL?
KLEIN: Technisch ist Deutschland bereits sehr weit und bereit für die Massenanwendung. Das Problem ist hier eher der Markt, weil niemand bereit ist für die Technik zu zahlen. In Deutschland ist man gewohnt, dass die Kassen das übernehmen. Einige Hersteller waren technisch schon sehr fortgeschritten und sind wieder ausgestiegen, weil damit in Deutschland kein Geld zu verdienen war. Aktuell gibt es ein wenig Bewegung durch den Innovationsfond des Gesundheitsministeriums. In Hamburg werden wir im Rahmen des Pilotprojektes „NetzWerk LebenPlus“ 1.000 Wohnungen mit „PAUL“ ausstatten. Bislang waren es immer nur wenige Einheiten, hier und da mal 20 oder 50 Wohnungen, aber das hatte noch nichts mit Massenfähigkeit und Rendite zu tun. Von Hamburg erhoffen wir uns hingegen den Durchbruch.
Über CIBEK
Das Unternehmen CIBEK beteiligt sich seit Jahren an nationalen wie internationalen Förderprojekten. Das Entwickler-Team besteht aus zwölf Ingenieuren und 15 weiteren Mitarbeitern. Die selbst entwickelte Plattformlösung „meinPAUL“ soll Senioren helfen ihren Alltag zu meistern oder zumindest zu vereinfachen und die Sicherheit zu erhöhen. Dafür nutzt CIBEK eine eigene Visualisierungssoftware, Sensoren, Spracherkennung, Mini-Server in Kombination mit speziellen Software-Systemen, Inaktivitätserkennung und Hilflosigkeitserkennung. Dafür muss die Wohnung entsprechend ausgestattet werden.
Wie sieht es in anderen Ländern aus?
KLEIN: In den USA gibt es einige technische Lösungen, vor allem im Bereich der Wearables, also der Hardware, die man direkt am Körper trägt oder umhängt. Aber auch dort sehen wir noch nicht so die Massenanwendung – Und das, obwohl in den USA die Hürden beim Datenschutz und Ethik nicht so hoch sind wie bei uns. In Japan ist vor allem die Robotik ein Thema, im Bereich der Gebäudetechnik haben wir bislang noch wenig gehört. China ist hingegen prädestiniert für AAL. Durch die Ein-Kind-Politik haben sie noch mehr Druck. Da muss eine Person die Eltern, die Schwiegereltern und gegebenenfalls die eigenen Kinder versorgen. Dort fehlt es eher an der Infrastruktur, weil es keine Notruforganisation wie in Deutschland gibt.
Sie haben eben den Datenschutz angesprochen. Welche Daten werden gespeichert und übermittelt?
KLEIN: Die größeren Hersteller, die auch im Telekommunikationsbereich tätig sind, übertragen Daten möglichst in ihre Rechenzentren, was aber auch kritisch sein kann. Wir sind einen anderen Weg gegangen und lassen die Daten in der Wohnung. Dort steht ein Mini-Server, auf dem die Daten gespeichert und ausgewertet werden. Wenn eine Situation eintritt, die einen Hilferuf erfordert, löst dieser Mini-Server diesen aus.
Welche Daten werden überhaupt erfasst?
KLEIN: Wir haben die Funktionen sehr vereinfacht und auf einem Touch-Display zusammengetragen. Der Nutzer kann Radio hören, Video-Kommunikation betreiben und Termine verwalten, Dienstleistung abrufen und vieles mehr. Außerdem haben wir Bewegungsmelder. Der Rest ist Logik. Das System lernt den Bewegungsablauf eines Menschen kennen, zum Beispiel, wann er aufsteht und wie lange er in der Regel im Badezimmer bleibt. Wird diese Zeit plus eine Karenzzeit überschritten, geht automatisch eine Meldung raus auf‘s Notrufgerät. Die Person muss diesen also nicht mehr aktiv nutzen. Studien haben gezeigt, dass Notrufkomponenten meist ohnehin nicht genutzt werden, obwohl sie vorhanden sind. Das hat uns dazu bewogen zu sagen: „Die Wohnung muss erkennen, ob alles in Ordnung ist.“
Die Krankenkassen zahlen das aber noch nicht, oder?
KLEIN: Bei unserem Hamburger Projekt „NetzWerk LebenPlus“ ist die Techniker Krankenkasse Projektleiter. Und wenn die Validierung positiv läuft, dann kann PAUL in die Regelversorgung gehen. Zusätzlich sind vier weitere großen Krankenkassen in dem Projekt involviert.
Aber das ist noch Zukunftsmusik. Bislang zahlt die Ausstattung der Kunde selbst?
KLEIN: Ja. Aber viele Kunden sind nicht bereit das Geld zu zahlen. Und die Angehörigen sehen die Notwendigkeit auch noch nicht. Im Moment sind die Kunden große Organisationen, die sich mit der Sache schon beschäftigt haben, zum Beispiel Pflegeheime mit angebundenem Betreuten Wohnen und Baugesellschaften.
Was kostet Ihr System denn?
KLEIN: Wir rüsten eine Zwei-Zimmer-Wohnung für 3.500 Euro aus. Das ist im Grunde so viel wie ein Monat Pflegeheim. Hinzu kommen monatliche Kosten von ca. 18 Euro für Update und 3rd-Level-Support.
Infografik: Technische Lösungen für ein Leben mit Einschränkungen. Für eine vergrößerte Darstellung bitte anklicken.
Wie einfach sind die Produkte denn für Senioren zu benutzen? Das Bundesministerium für Bildung und Forschung schreibt auf seiner Internetseite, dass die vorhandenen Produkte nur selten einfach in der Nutzung und Installation sind.
KLEIN: Das stimmt. Deswegen haben wir unsere Plattform „meinPAUL“ auch zusammen mit Senioren entwickelt und es gibt ihn bereits seit acht Jahren auf dem Markt. Nach einer Einweisung von einer halben Stunde kann man ihn bedienen.
Im Jahr 2035 soll die Hälfte der deutschen Bevölkerung über 50 Jahre alt und 3,5 Millionen Menschen sollen pflegebedürftig sein. Wo wird AAL in 15 oder 20 Jahren stehen?
KLEIN: So weit würde ich gar nicht blicken. In den nächsten fünf bis zehn Jahren werden wir schon Riesenprobleme haben. Wir haben einen großen Pflegekräftemangel und wir haben immer mehr Engpässe in den Pflegeheimen. Außerdem steigt jetzt schon jährlich die Anzahl der Senioren, die Welle kommt also schon früher. Das Ziel in der Pflege ist heute, dass die Leute mehr ambulant gepflegt werden. Nur, wenn man zu Hause versorgt wird, kann man nicht immer jemanden 24 Stunden zur Kontrolle bei sich haben. Es ist auch der Wunsch der Senioren möglichst lange zuhause bleiben zu können.
Was sind die Schwachstellen von AAL?
KLEIN: Technisch sind die meisten Dinge sehr gut gelöst. Die Spracherkennung könnte noch besser werden. Die Haupthürde ist momentan einfach die Finanzierung und die gesellschaftliche Wahrnehmung. In den letzten Jahren sehe ich aber eine starke Bewegung und ich denke, in den nächsten zwei Jahren stehen wir vor der Massenverbreitung.
Veröffentlicht am 29.03.2017