• Zurück in die Vergangenheit - Wenn VR-Brillen in der Pflege eingesetzt werden

    Zurück in die Vergangenheit

    Wenn VR-Brillen in der Pflege eingesetzt werden

Eine grüne Wiese, dahinter die Alpen im Sonnenschein. Den Ort, den Erna Meyer vor sich sieht, hat sie vor 20 Jahren das letzte Mal besucht. Dennoch liegt alles ganz genau vor ihr. Die 80-Jährige kann die Almhütte ausfindig machen, wo sie 40 Jahre lang fast jeden Sommer mit ihrer Familie gegessen hat. Außerdem kann sie sich plötzlich wieder frei bewegen. Ihre Gehprobleme sind passé. Dabei sitzt sie einfach nur in einem Stuhl – Denn die Reise an den Ort ihrer Vergangenheit ermöglicht eine sogenannte VR-Brille.

Entspannung ermöglichen, zu Bewegung motivieren

„Komm, wir machen eine Reise“, sagt die Pflegerin zu Erna, wenn ihr die Geräusche und Gespräche der anderen zu viel werden. Sie reagiert dann aggressiver als sonst. Durch ihre Demenz spricht sie nicht viel, lebt eher zurückgezogen. Während Erna sich die Videos ansieht, lächelt sie. Und sie erzählt.
In der Demenzpflege Riedlingen in Baden-Württemberg werden die VR-Brillen von ANDERS VR seit 2017 eingesetzt. Sie sollen der biografischen Erinnerungsarbeit und zur Beruhigung dienen. Der therapeutische Mehrwert dieser neuen Technik wird aktuell in Zusammenarbeit mit der Universität Hohenheim untersucht. Langfristig könnte mit Virtual Reality sogar auf das ein oder andere Medikament verzichtet werden.
 „Ganz wichtig beim Einsatz der VR-Brillen ist, dass die Betreuer die Bewohner gut kennen“, so Geschäftsführer von ANDERS VR, Manuel Döbele. „Sie wissen, was die Vorlieben der Patienten früher waren, was sie früher gerne gemacht haben. Wenn die Bewohner gerne segeln waren, dann reicht es auch einen See zu zeigen. Darauf aufbauend suchen wir die Bilder aus.“ ANDERS VR arbeitet bei Demenz überwiegend mit statischen Inhalten und zeigt die personalisierten 360 Grad-Aufnahmen einzeln bzw. mit langsam überblendeten Inhalten. So werden die Demenz-Patienten nicht mit einer Bilderflut überfordert. Das ist ein klarer Vorteil gegenüber Fernsehen. Die sogenannte „Motion-Sickness“ (Übelkeitsgefühl durch simulierte Bewegung) bei VR wird ebenfalls verhindert. In langsamem Wechsel finden sich die Nutzer besser zurecht, können sich in Ruhe in einer Landschaft umsehen. Und sie haben Zeit und Raum für Erinnerung.

Was ist VR?

VR steht für virtuelle Realität (Englisch ‚virtual reality‘). Mittels einer Brille wird dem Benutzer eine Umgebung vorgetäuscht, die er durch Kopfbewegung in 360 Grad wahrnehmen kann. Dadurch, dass zwei Bildschirme dem linken und rechten Auge unterschiedliche Perspektiven zeigen, wirkt die virtuelle Welt räumlich. So hat der Benutzer den Eindruck, Teil der Illusion zu sein und das Bedürfnis, mit ihr zu interagieren. Je nach technischer Erweiterung kann man sich in dieser Welt bewegen oder in den Handlungsverlauf eingegriffen werden, zum Beispiel durch ein Laufband oder einen speziellen Handschuh. Die Inhalte von VR müssen relevant, gut gefilmt und benutzerfreundlich sein – indem sie zum Beispiel nicht überfordern. Auch die Geräte sind leicht, anwenderfreundlich und bequem zu tragen.

Als Einzel-Projekt initiiert, auf weitere Einrichtungen übertragbar

Die VR-Inhalte aus Riedlingen können auf andere Einrichtungen übertragen, die Bilder individuell angepasst werden. Die Kosten übernehmen die Einrichtungen in der Regel selbst. „Das Interesse und die Nachfrage steigen langsam“, so Manuel Döbele. Die Resonanz sei sehr gut. Auch Angehörige können überzeugt werden, gerade wenn sie die Wirkung selbst erfahren.

Martin Döbele im O-Ton:
„VR kann Pflege als Beruf attraktiver machen.“


Neben der Erinnerungsarbeit werden die Bewohner über die VR-Brillen aber auch zu mehr Bewegung motiviert, zum Beispiel mit Yoga-Übungen. Im Video macht die Trainerin die Bewegungsabläufe vor. Sie sind einfach und überall umsetzbar. Die VR-Übungen begeistern so stark, dass einzelne Bewohner versuchen, mit der Yoga-Lehrerin zu kommunizieren. Eine Steigerung zum analogen Sportprogramm.
Denn obwohl viele Einrichtungen über Sport-Angebote und Fitnessgeräte verfügen, hätten die bewegungsfähigen Senioren wenig Motivation, diese zu nutzen. Dass Virtual Reality tatsächlich zu Bewegung animieren kann, belegt eine dänische Studie. Und auch, dass Erinnerungen an längst Vergangenes wiederkommen.
„Da waren wir früher immer, da hast du mich gefragt“, sagt Erna Meyer zu ihrem Ehemann Reinhold. Dieses Mal ist er bei einer ihrer virtuellen Reisen dabei. Den Ort, den sie sieht, erinnert sie an den Heiratsantrag. Sie nimmt seine Hand und lächelt.

In die Vergangenheit reisen, Abenteuer erleben

Während sich Erna Meyer in der Natur wiederfindet, bewegen sich die Bewohner vom Cäcilien-Hospital Hüls durch das Krefeld der 50er und 60er Jahre.
Seit 2017 bietet die geriatrische Abteilung der Einrichtung in Zusammenarbeit mit dem Start-up Weltenweber die Reise in die Vergangenheit an. Ziel ist es hier, Aufmerksamkeit und Konzentration zu trainieren. „Mit VR können wir Orientierung und Gleichgewicht üben“, so Dr. Friedhelm Caspers, Leiter der Abteilung. „Es hilft natürlich auch, miteinander ins Gespräch zu kommen und spielerisch zu interagieren.“
Was 2017 durch Neugierde am Einsatz einer neuen Technologie in der Pflege startete, lässt sich inzwischen in die Therapie integrieren. Jedoch zeigen sich auch Grenzen: Die Szenen müssten für die einzelnen Bewohner individualisiert werden. Und um bessere Trainingsergebnisse zu erzielen, müsste außerdem die Interaktion verstärkt werden.
Zum Beispiel zum Thema „Wie überquere ich sicher eine Straße?“. Denn viele Senioren ziehen sich aus dem Alltag draußen zurück, überfordert mit den vielen Einflussfaktoren im Außenbereich. Durch das Üben mittels VR könnte das Selbstvertrauen gestärkt werden und die älteren Personen würden wieder öfter das Haus verlassen.

Dr. Friedhelm Caspers im O-Ton:
"VR kann helfen, Barrieren zu überwinden"


Alte Geschichten werden zu neuen Geschichten - Dr. Friedhelm Caspers
Doch sind die Nutzer erst einmal in die virtuelle Welt des Krefelds der 50er und 60er Jahre abgetaucht, sind die Erinnerungen und Geschichten sehr konkret. Sie erzählen dem Personal mit Freude, was sie sehen: Ein altes Café, wo sie sich immer mit Freunden getroffen haben; ein alter Bus, den sie zur Arbeit genommen haben; ein Geschäft, das früher als besonders schick angesehen war; die Ecke, wo sie ihren ersten Kuss bekommen haben. „Alte Geschichten werden zu neuen Geschichten“, so Friedhelm Caspers. Das bildet eine neue Kommunikationsebene und schafft Vertrauen zwischen Patienten und Pflegern. „Wir erleben keinen besonderen therapeutischen Effekt, aber die Laune wird besser und sie kommen einfach ins Gespräch“, so Friedhelm Caspers.
Auch Erna kommentiert das, was sie sieht: „Da ist ein Vogel vorbeigeflogen.“ Große Freude herrscht bei allen Anwesenden, wenn sie sich an die gemeinsamen Familienausflüge zum Wandern in den Bergen erinnert. Die Pflegerin stellt Fragen und hört aufmerksam zu. Das verbindet.

Ein Blick in die USA

In den USA ist man schon ein bisschen weiter mit der Technologie. Zum Beispiel bietet der Hersteller Rendever ein technisches Modul an, mit dem Angehörige Inhalte individuell gestalten können. So können ältere Menschen ihr Elternhaus erkunden oder sogar die Hochzeit der Enkelin besuchen. Die Technik erlaubt Senioren der betreuten Wohngemeinschaft Maplewood Senior Living außerdem virtuell ein Fußballspiel zu erleben, ein Klassikkonzert zu besuchen oder in ferne Länder zu reisen. Dennis Lally, CEO von Rendever, kennt aber auch die Herausforderungen von VR: „Virtuelle Realität kann isolierend wirken. Aber mit unserer Software wird sie zu einer geselligen Erfahrung, über die sich Menschen austauschen können.“ Die Bewohner machen daher gemeinsam virtuelle Ausflüge. Die Alltagsroutine wird so aufgefrischt und die Gemeinschaft gestärkt. Die Abenteuer regen zu neuen Gesprächen am Esstisch an.

VR als Zukunft der Pflege?

Der Einsatz von zukunftsweisender Technik eröffnet mehr Möglichkeiten im Umgang mit Pflegebedürftigen. Für sie kann Virtual Reality stärkere Einbindung, höhere Lebensqualität, verbesserte Heilungsverläufe, schnellere Rehabilitation und größeren Komfort bieten.
Tatsächlich wird VR seit den 90er Jahren vor allem zur Bekämpfung von Angstzuständen und Kriegstraumata angewendet. Doch inwiefern sie die Gesundheit und das Wohlbefinden von älteren oder pflegebedürftigen Menschen fördert, ist noch nicht belegt. Erste Ansätze, wie die der Universität Hohenheim lassen die positiven Effekte nur erahnen. Um die Akzeptanz für VR zu stärken, ist neben der Weiterentwicklung und Forschung viel Information und Öffentlichkeitsarbeit notwendig.

Für diese 8 Bereiche kann VR in der Medizin eingesetzt werden

Infografik: Einsatzbereich von VR in der Pflege

Eine Technik für alle Generationen - Jugendliche und Alte - Dr. Friedhelm Caspers
Dr. Caspers geht davon aus, dass zukünftig eher internationale Konzerne aus der Gaming-Industrie das Geschäft mit VR dominieren werden. „Es gab damals schon Therapieansätze mit EDV. Das hat sich allerdings nie richtig durchgesetzt. Dafür ging es im Gaming-Bereich voran. Die Wii wird zum Beispiel auch inzwischen in Pflegeheimen angewendet“, sagt er. „Ich glaube, das wird sich auch für die Pflege so entwickeln. Eine Technik für alle Generationen – Jugendliche und Alte.“

VR kann die Pflege auch dahin gehend revolutionieren, dass die Technik zur Demonstration des Pflegealltags, Schulung von Pflegepersonal und Einbindung ausländischer Pflegekräfte dienen kann. Verschiedene Unternehmen im In- und Ausland arbeiten bereits an entsprechenden Modulen. Dabei geht es letztlich auch darum, mittels VR den Pflegeberuf attraktiver zu gestalten und Fachkräfte zu gewinnen.
Die Technik soll nicht ersetzen, sondern unterstützen - Martin Döbele
Denn so sehr der Einsatz von VR eine Entlastung im Pflege-Alltag sein kann, die Brille ersetzt nicht die zwischenmenschliche Beziehung, auch zwischen Patienten und Pflegenden. Das bestätigt Manuel Döbele: „VR funktioniert nur in Verbindung mit einer Betreuungs- und Vertrauensperson. Die Technik soll nicht ersetzen, sondern unterstützen.“

So setzt auch Erna am Ende ihres virtuellen Ausflugs die Brille ab und sieht sich wieder in der Realität. Mit ihrem Mann an der Seite und einer Pflegerin, die sichtlich gerührt ihre Hand hält. Erna lächelt.
Veröffentlicht am 9.11.2018

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